Zwischen Auge und Verstand
Formal mathematisch betrachtet handelt es sich um eine Parkettierung, eine lückenlose und überlappungsfreie Überdeckung der (euklidischen) Ebene durch gleichförmige Teilflächen; letztlich also um die sehr grundsätzliche Frage nach der Beschaffenheit einer Fläche und weiterführend der eines Raumes an und für sich. Im Gegensatz zu einem Mathematiker, einer Mathematikerin, welche sich mit der formal beschreibbaren, topologischen Beschaffenheit von geschlossenen, logischen Zahlenräumen beschäftigt, betrachte ich als Künstler und Augenmensch diesen geometrischen Körper natürlich vornehmlich unter sinnlich ästhetischen Aspekten. Das heißt ich interessiere mich vornehmlich für den Möglichkeitsraum und das Gestaltungsprinzip innerhalb dieses klaren Rahmens. Mich interessiert das schöpferische Potential in der Kombinatorik der beiden visuellen Zeichen – Dreieck und Quadrat. Oder, wie es Rupert Riedl so schön dem rationalen Vermögen entgegengesetzt hat, das ratiomorphe Potential in der geometrischen Verfassung dieses Werkes. Mit dem Begriff des ratiomorphen Potentials wird dem Auge erstens ein ebenbürtiger, wenn auch andersartiger Erkenntniswert im Sinne der logischen Vernunft (erkenntnistheoretische Debatte) zugesprochen und zweitens wird die zu unterscheidende Wesensart dieser Erkenntnis mit dem Wortteil „morph“ (vom „altgr. morphe“) als Gestalt, Leibesbildung bezeichnet und somit die sinnlich (empirische) Beteiligung betont und aufgewertet.
Es geht um das tätige Auge, welches sich im Laufe der Evolution als hervorragendes Strukturerkennungsorgan herausgebildet hat und uns sicher durch das Dickicht des Geästes der Urwälder sowie die Weiten der Steppen geführt hat, uns unzählige Pflanzenarten zu unterscheiden gelehrt hat und uns die rote Frucht auf dem grünen Blätterdach so trefflich präsentiert. Das Erkenntnispotential des Auges liegt, wie die Künstler und Künstlerin seit Generationen schon intuitiv gewusst haben, in der enormen Fähigkeit, Gestalten, Ordnungen und Strukturen zu erkennen bzw. diese aus einer augenblicklichen Ganzheit zu synthetisieren und das Wesentliche blitzartig zu erfassen.
Dort, wo das Rationale oder kausale Denken, als logisches Nacheinander in der Sprache im zeitlichen Verlauf sich vollzieht, da ist das ratiomorphe Erkennen eben tendenziell in der Überschau und Interpretation eines Augenblickes angesiedelt und hervorragend ausgebildet, eine Figuration (Gestalt) von einem Hintergrund abzugrenzen und zu erfassen. Ein Abstraktionsvermögen das bis an die Grenze zur Begriffsbildung heranführt und welches schon Goethe mit der Begründung einer Morphologie eingeführt und im erkenntnistheoretischen Diskurs bis heute verankert hat.
Für mich ist daher eine konkrete Kunst, die sich mit einem reduzierten Formenvokabular beschäftigt, immer einerseits Reflektionsgegenstand dieser ratiomorphen Anlage selbst. Denn mit der Reduktion der Zeichen gelangt man unweigerlich ganz im Sinne einer Optical Art an dieses Vermögen unseres Wahrnehmungsapparates heran, indem man es einer experimentellen Situation gleich freigelegt, seinen Tendenzen folgt und diese somit selbst zur Anschauung bringt. In dieser Hinsicht erfahre ich also etwas über das Vermögen des Auges selbst, wie es funktioniert und wie es selbst schöpferisch tätig wird.
© PRHS _ Eröffnungsrede 17. September 2019